FOTOKUNST IN KARLSRUHE - Die Kamera und der sture Zufall
Von Freddy Langer
Veröffentlicht in der FAZ am 04.05.2023
Das Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe hat den Vorlass des Fotokünstlers und Publizisten Andreas Müller-Pohle erworben.
Jetzt gilt es, einen Bilderschatz zu heben.
Jetzt ist es leer im Atelier von Andreas Müller-Pohle. Leer zumindest für den, der sein Studio in einem Lagerkomplex am Rande von Berlin schon kannte, als sich dort noch Transportkisten im Dutzend stapelten und die Regale gefüllt waren mit sorgfältig beschrifteten Pappkartons. Ein guter Teil eines Lebenswerks war darin sortiert: Zeitschriften, Bücher, Korrespondenzen und Hunderte gerahmter Fotografien, mit denen sich ganze Ausstellungen bestücken und kuratieren ließen – was sich eben so ansammelt im Laufe von Jahren und Jahrzehnten. Allemal ein Lieferwagen voll, vielleicht auch zwei, je nach Größe des Wagens.
Werkzeug oder Spielzeug?
Die Frage, wohin mit all den Bildern, beschäftigt momentan eine ganze Generation von Fotografen, die den Beruf nicht mehr als Handwerk erlernt, sondern an Hochschulen studiert hat und das Medium weniger als ein Mittel zur Information begreift denn als Werkzeug, vielleicht auch Spielzeug für künstlerische Auseinandersetzungen. Und so liegt in deren Archiven eben nicht nur das, was die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters vor zwei, drei Jahren als „das bildhafte Gedächtnis unserer Gesellschaft“ bezeichnet hat und wofür sie mit viel Engagement und großen finanziellen Versprechungen ein Deutsches Fotoinstitut auf den Weg bringen wollte, das, vergleichbar mit dem Literaturarchiv in Marbach, die großen deutschen Fotoschätze sichern sollte – ein Plan, dem schnell weit ausgreifende Begehrlichkeiten folgten, der sich momentan in allerhand Debatten und juristischen Auseinandersetzungen verheddert hat und der womöglich eine erstaunliche Wendung nehmen wird, jetzt, da der Vorschlag auf dem Tisch liegt, das Institut in einer der vielen, demnächst geräumten Karstadt-Filialen unterzubringen.
Aber noch sind ja nicht einmal diese Fotoschätze gehoben. Und als in einer Machbarkeitsstudie für das Haus davon die Rede war, Platz für zwanzig Nachlässe schaffen zu wollen, durfte man sich wundern, kein großes Rumoren in der Fotografieszene zu vernehmen. Denn augenblicklich musste jedem klar sein, dass die Auswahl unter solchen Umständen nicht ohne das eine oder andere Scharmützel getroffen werden wird, ob vor oder hinter den Kulissen.
Wohl dem, der derlei Grabenkämpfe gelassen aus der Ferne beobachten kann. So wie Isolde Ohlbaum, die Porträtistin der Literaturszene, deren Vorlass gerade in vier Tranchen an die Bayerische Staatsbibliothek geht. So wie der Produkt- und Werbefotograf Hans Hansen, der für sein Gesamtwerk im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg eine Heimat gefunden hat. Oder eben Andreas Müller-Pohle, dessen Archiv jetzt zu großen Teilen im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe gelandet ist – einer Institution, der die Fotografie viel weniger am Herzen liegt als die elektronischen Medien, aber die gerade deshalb mit dem Werk Müller-Pohles die Position des Hauses noch einmal verstärken kann. Denn kaum je hat sich Müller-Pohle in seinen Arbeiten auch nur in geringem Maße mit einer klassischen Ausrichtung der Fotografie befasst, sondern stets versucht, sie zu sprengen. Zugleich hat er als Chef seines eigenen Verlags und Herausgeber der Zeitschrift „European Photography“ der künstlerischen Avantgarde seit mehr als vierzig Jahren gleich mehrere Foren geboten und mit den kompletten Schriften von Vilém Flusser zudem einen intellektuellen Überbau geliefert. Was sich in seinem Archiv befand, war deshalb nicht weniger als ein Gesamtpaket der Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten des technischen Bildmediums – bis hin zur Grundlage für eine Philosophie der Fotografie. So musste sich Müller-Pohle dem Haus auch gar nicht andienen. Es war vielmehr die Idee dessen Direktors Peter Weibel, das Material in Karlsruhe unterzubringen. Die erste Lieferung hat Weibel vor seinem Tod am 1. März dieses Jahres noch erleben können.
Einsortiert freilich ist davon bisher nichts in die gewaltigen Rollregale des Archivs, in denen das Material geschätzt zehn Meter Raum einnehmen wird. Sondern es stehen die Schachteln und Kisten zunächst in dem Raum, den der Archivar des Hauses, Felix Mittelberger, „die Vorhölle“ nennt. Das meiste ist noch eingepackt. Nur Flussers Commodore Computer im grauen Plastikgewand, mit dem er auf der Frankfurter Buchmesse grün auf schwarz seinen Aufsatz „Hat Schreiben Zukunft?“ samt einem buchstabenfressenden Wurm vorstellte, ragt hervor wie eine Skulptur: Denkmal einer lange vergangenen Zeitenwende, hier aber eben auch funktionierende Maschine, die noch immer in der Lage ist, eine Floppy Disc zu lesen. Und augenblicklich begreift man, weshalb es nicht damit getan ist, Texte und Bilder ins elektronische Netz zu übertragen oder, wie Müller-Pohle es nennt, in eine „digitalisierte Urne“. Auch in den modernen technischen Medien spielt das Moment der Haptik eine nicht zu vernachlässigende Rolle.
Letztgültig ist gar nichts
Dabei plädiert ausgerechnet Andreas Müller-Pohle für dynamische Prozesse und zeigt wenig Interesse am letztgültigen Meisterwerk. Einerlei, ob Bild oder Text. Denn so, wie er heute ein Negativ seiner frühen Arbeiten ganz anders interpretieren würde, also anders abziehen oder drucken als in den Siebziger- und Achtzigerjahren, so hat er gemeinsam mit Vilém Flusser auch dessen Theorien immer wieder überarbeitet und in neue Fassungen gebracht. Das Leben ist ihm ein Fluss.
Als sich die beiden zum ersten Mal begegneten, erkannten sie augenblicklich eine Seelenverwandtschaft. Das war 1981 in Düsseldorf bei einem jener Symposien, die sich zu jener Zeit allerorten mit der Wirkung der Fotografie beschäftigten, ihrem Wesen und ihrem Platz innerhalb der Kunst. Müller-Pohle suchte damals in der Abkehr ebenso vom dokumentarischen Ansatz, dem niemand konsequenter, auch dogmatischer folgte als Bernd und Hilla Becher, wie von der humanistisch orientierten Reportage nach Möglichkeiten einer Fortsetzung jener experimentellen Ausrichtung, der Künstler wie Rodtschenko, Hausmann und Moholy-Nagy in den Zwanziger- und Dreißigerjahren den Weg geöffnet hatten, den aber nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch jemand ging. Sein Programm nannte er „Visualismus“ und seine radikalste Serie „Transformance“. Dafür nahm er zehntausend Fotos auf, ohne je durch den Sucher der Kamera zu blicken oder den Apparat auch nur ruhig zu halten. So entstanden verwischte Weltfetzen, in denen nur hin und wieder Andeutungen eines Möbelstücks oder einer Person zu erahnen sind, stattdessen aber die Dynamik des Aufnahmeprozesses in kontrastarme Schlieren gerann. Das hat nicht nur optisch einen eigenen Reiz, wie Vilém Flusser 1983 im Vorwort des Bildbands mit siebenundvierzig Beispielen schrieb: „Dieses Buch belegt einen Versuch, die Kamera in den Griff zu bekommen, wobei sich das Auge im ersten Schritt gleichsam blind stellt, um im zweiten Schritt kritisch betrachten zu können, was die Kamera blindlings produziert hat: nämlich den sturen Zufall.“
Der Urknall des Fotouniversums
Es war dasselbe Jahr, in dem Flusser zum ersten Mal seine Überlegungen formulierte, sich dem Diktat des Apparateprogramms der Kamera zu widersetzen und das Fotouniversum so zu erweitern, dass es im Sinne einer Kulturkritik als Modell für das nachindustrielle Leben schlechthin dienen könne. Freiheit bedeutete demnach, gegen den Apparat zu spielen – eine Einstellung, die wie ein Wasserzeichen durch das gesamte Werk Müller-Pohles schimmert. So weit wagte er sich in die Tiefen des Fotouniversums, dass er 1995 für „Digitale Partituren“ das Bild gegen Ziffern eintauschte, indem er die erste Fotografie überhaupt, also den Urknall des Mediums, in einen alphanumerischen Code transkribierte: den Blick von Nicéphore Niépce auf das Gut, auf dem er lebte, aufgenommen 1826. Ausgebreitet auf acht Tafeln mit Millionen winziger Ziffern wird die Aufnahme zum undurchschaubaren Text – zugleich gibt die Arbeit Einblick in das Wesen der digitalisierten Welt. Dass es Müller-Pohle auch um die erlebbare Welt zu tun ist, belegt die Serie „Meere und Flüsse“, für deren bizarre Bildideen er das Kameraobjektiv jeweils zur Hälfte ins Wasser tauchte, um den Wohnraum, so könnte man meinen, von Fischen oder Nixen einzubeziehen. Konkrete Zahlen der Verschmutzung und Vergiftung des Wassers indes, auf den unteren Rand der Bilder gedruckt, ersticken jeglichen romantischen Anflug. Stattdessen verankert Müller-Pohle die Kunst in den Problemen der Gegenwart.
Das Archiv, sagt Felix Mittelberger, sei keine Lagerstätte und schon gar kein Grab, sondern eine Nutzungsstätte. Die angekauften 173 analogen Fotoarbeiten, 106 digitale Bilddateien und 17 Videos sollen deshalb über das ZKM möglichst häufig für Ausstellungen an andere Häuser verliehen werden. Zur Sammlung der Bücher, Zeitschriften und des Schriftverkehrs indes gibt es den gleichen problemlosen Zugang für jeden, der forscht, wie zu den anderen 220 Beständen aus Vor- und Nachlässen im ZKM. Mittelberger spricht von „Kontextmaterial“, durch das Kunst und Wissenschaft zueinander finden sollen. Manchmal allerdings gewinnt man in Karlsruhe den Eindruck, sie seien längst vermählt.
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