Was sie zu Göttern macht, das ist ihr Antlitz.
Verehrung finden sie nicht durch sich selbst, nur durch die Wunder der Kunst.
(Hildebert von Lavardin, 12. Jahrhundert)
Von Klaus Honnef
Manchmal ist es wie Fingerhakeln. Wer nicht länger in das Gesicht des Gegenübers blicken kann und schließlich ausweicht, hat verloren. In manchen westlichen Ländern gelten die Gewinner als besonders durchsetzungsfähig, als „straight“. In Asien sind solche Rituale bloß Ausdruck kolossaler Unhöflichkeit. Es gilt als unschicklich, die Gesprächspartner anzuschauen und als zudringlich, sie penetrant zu fixieren. Streng gläubige muslimische Frauen verhüllen ihre Gesichter. Sie lassen allenfalls die Augen unbedeckt, und mitunter nicht einmal die, um sich gegen die als herausfordernd empfundene Neugier in den Gesichtern fremder Betrachter zu schützen. Selbst in Europa würde der Versuch, das Gesicht anderer intensiv zu mustern, herausfordernd wirken und für die Beobachter bisweilen schmerzliche Reaktionen zur Folge haben. Es sei denn, man ist Arzt oder Grenzbeamter. In früheren Zeiten stand nur Gott oder dem weltlichen Herrscher das Recht zu, seine Untertanen anzusehen. Erst als der Pantokrator, der göttliche Weltherrscher, aus der Kuppel der Apsis herabstieg und in Gestalt der Ikone den menschlichen Blick sozusagen auf Augenhöhe erwiderte, schlug die Stunde des menschlichen Subjekts. Der Individualismus begann sich zu entfalten. Ein Spiegel gestattet nur den Blick ins eigene Gesicht.
Dennoch schauen wir unentwegt in die Gesichter anderer Menschen und mustern sie. Überall auf der Welt, und die Ausnahmen fallen kaum ins Gewicht. Allerdings geschieht es nicht direkt, gleichsam unverhüllten Blicks, sondern über eine Umleitung, genauer über eine materielle Instanz der Vermittlung, über ein Bild. Die Fotografie hat es möglich gemacht, dass wir problemlos in die Gesichter anderer Menschen zu schauen vermögen, ohne unangenehme Reaktionen befürchten zu müssen. Außerdem erlaubte schon die Vorläuferin der fotografischen Kamera, die Camera obscura, den Blick auf andere, ohne dabei gesehen und erwischt zu werden. Das Zeitalter der Überwachung begann schon früh. Inzwischen besorgt die Teleoptik das Geschäft. Deshalb bescheinigen manche dem Blick auf andere aus der Ferne auch Züge eines lüsternen Voyeurismus – ein beliebtes Thema der westlichen Kunst im Übrigen, seit sie dazu übergegangen ist, die sichtbare Welt in ihren Blick zu nehmen.
Warum kommen mir solche Gedanken ausgerechnet bei der Betrachtung der Gesichter eines der ehrgeizigsten und anspruchsvollsten fotografischen Projekte des immer noch jungen 21. Jahrhunderts in den Sinn: angesichts der „990 Faces“ von Hans Jürgen Raabe? Und warum habe ich früher nie über diese spezifisch kulturellen Zusammenhänge nachgedacht, wenn ich mich mit dem Thema der Bilder von Menschen, kurzum des Porträts in Fotografie und Malerei beschäftigt habe? Wahrscheinlich gerade deswegen? Weil Raabes Bilder derlei Gedanken unweigerlich hervorlocken?
Die akkurate Wiedergabe des menschlichen Gesichts nennt man Porträt oder Bildnis. In den antiken Gesellschaften war das Bildnis den Herrschenden vorbehalten, Kaisern, Heerführern, Tribunen, Konsuln, Senatoren, Rhetoren und den Toten der einflussreichen Exponenten. Häufig allerdings in idealisierender und typisierender Fassung. Das Bildnis ist die erfolgreichste Gattung der westlichen Bildkunst. Hans Jürgen Raabe wird am Ende seines Vorhabens 990 Gesichter an 33 verschiedenen Orten auf der ganzen Welt mit seiner Kamera beisammen haben. In wie viele er über den Sucher der Kamera geblickt hat, muss offen bleiben.
Vielleicht geben ein paar eher kursorische Antworten auf meine Fragen bereits eine wichtige Auskunft über die besondere Qualität des fotografischen Unterfangens. Merkwürdigerweise drängen sie sich selten oder nie auf, wenn ich die gängigsten ästhetischen Formate des modernen Menschenbildes in der Fotografie betrachte, als da sind das „psychologische Porträt“, das „Image“ oder das „Typenporträt“. Das psychologische Porträt ist aus der Mode gekommen, seit sich die Kunst die Fotografie erobert hat. Oder war es umgekehrt? Unter alle drei Kategorien fallen die „990 Faces“ von Hans Jürgen Raabe sichtbar nicht. Weder das Bemühen, durch ausgeklügelte Beleuchtung und Kamerawinkel sozusagen hinter die Fassade des menschlichen Antlitzes zu dringen, um so etwas wie Befindlichkeit oder gar Seele freizulegen, lässt sich erkennen, noch auch die Absicht, die fotografierten Menschen in ein ethnisches, soziales oder sonst wie geartetes Raster zu pressen oder ihnen ein glamouröses Image zu verpassen. Nicht einmal die Affinität des Porträts zum Passbild steht in diesen Bildern zur Diskussion. Hier herrscht offenbar eine Sicht auf die Menschen vor, die prinzipiell offen ist, sich ihnen nicht mit einem Vor-Urteil nähert, und sei es einem humanistischen, wie es etwa Edward Steichen in seiner Ausstellung „Family of Man“ entworfen hat. Eine offene Sicht, die lediglich durch die technischen Bedingungen des Porträts als Produkt eines Kamerabildes eingegrenzt wird.
Doch in diesem Punkt erschöpft sich die Außergewöhnlichkeit des Projektes von Hans Jürgen Raabe keineswegs. Um seine Qualitäten auszuloten, ist es deshalb notwendig, den Blick nicht nur auf die fotografierten Gesichter zu richten, sondern ebenso auf die Orte, an denen sie festgehalten wurden. Es sind keine beliebigen Orte. Sämtliche der ausgewählten Orte zeichnet nämlich ein spezifischer Charakter aus. Viele Menschen fühlen sich von ihnen angezogen. Sie reisen hin, suchen sie auf, für Tage, manchmal Stunden nur. Die wenigsten siedeln sich dauerhaft an. Zu Zeiten weisen manche Orte ein Mehrfaches ihrer gewöhnlichen Einwohnerzahl auf. Bisher hat Raabe in Myanmar, in Lourdes, auf den Wies´n in München anlässlich des Oktoberfestes, in Marrakesch fotografiert: zudem auf der 5th Avenue in Manhattan vom Flatiron Building up Town, in Kassel während der 13. documenta, in Istanbul am Bosporus, am Eiffelturm in Paris, am Brandenburger Tor in Berlin sowie in Papua, Papua, Neu Guinea.
Nicht alle Orte würde man als Touristenziele apostrophieren. Einige sind es, ohne Zweifel. Werden ihre Namen aufgerufen, lösen sie bei den meisten Menschen prompt gewisse Vorstellungen aus. Nicht wenige kennen sie aus eigener Anschauung. Unter den Zielen befinden sich Wahlfahrtsorte, ganz unterschiedlicher Sorte wie Lourdes und Kassel. Andere symbolisieren eine ganze Stadt, der Eiffelturm, die 5th Avenue, das Brandenburger Tor. Sind deren Wahrzeichen. Sie werden im Titel des fotografischen Projekts „990 Faces“ zwar nicht ausdrücklich erwähnt, spielen gleichwohl eine zentrale Rolle.
Hans Jürgen Raabe vergegenwärtigt seine Arbeit in 33 großformatigen, perfekt gedruckten Bildbänden. Die Anzahl der Bände orientiert sich an der Zahl der Orte, die er ausgewählt hat und noch auswählen wird. Daraus ergibt sich nicht allein die Bedeutung der einzelnen Orte für eine Strukturierung des gesamten Projektes. Zusätzlich markiert der Fotograf sie noch, indem er jeden Bildband mit je zehn sogenannten fotografischen „Stills“ einleitet. Sie muten wie zufällige Spots auf die Orte des fotografischen Geschehens an, und es fällt dem flüchtigen Blick schwer, zu identifizieren, wo er sich jeweils befindet. Das allerdings ist auch Programm. Denn Raabe meidet die Klischees, die über die Orte im Kurs und zu ihren Erkennungssignalen geworden sind. Dadurch provoziert er einen zweiten, aufmerksameren Blick bei den Betrachtern. Dieser merkt umso mehr auf, als der Fotograf seinerseits bewusst Klischees zeigt; freilich andere, als wir mit den speziellen Orten verbinden.
Die visuelle Einkreisung der auserkorenen Orte ist in einem von Band zu Band stets gleichbleibenden Einführungstext von Hans-Michael Koetzle in mehreren Weltsprachen eingebettet. Nach dieser Ouvertüre reihen sich 30 Bilder von Menschen, immer ganzseitig auf der Druckseite platziert, aneinander. Überwiegend sind es allein ihre Gesichter, frontal, im Profil und in den vielen Facetten des Profils, des Halb-, Viertel, Achtel- und verlorenen Profils. Hinzu kommen einige Brustbilder und bisweilen auch Ganzkörper-Formate. Raabe entfaltet die gesamte Spannweite der Gattung Porträt. Bei allen Bildern handelt es sich um Querformate, und alle sind Farbbilder einer Digitalkamera. Mit Ausnahme fälliger Farbangleichungen werden sie jedoch keiner aufwendigen Postproduktion mit tief greifenden Veränderungen unterworfen.
Nachdem Hans Jürgen Raabe ein Drittel seines vorgenommenen Weges hinter sich gebracht hat, besteht kein Zweifel, dass mit „990 Faces“ ein einzigartiges fotografisches Werk im Entstehen begriffen ist. Einzigartig in der Geschichte der Bildkünste und nicht weniger unvergleichlich. Seine Unvergleichlichkeit erweisen paradoxerweise einige naheliegende Vergleiche. Etwa mit August Sanders legendärem Unterfangen, einen Bildatlas der deutschen Gesellschaft während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in typologischer Zuspitzung zu schaffen. Oder mit Edward Steichens schon erwähntem Menschheitspanorama „The Family of Man“, der erfolgreichsten fotografischen Ausstellung aller Zeiten. Was Raabes Projekt von diesen großartigen Bilderentwürfen trennt, ist ihre vollständige Vor-Urteilslosigkeit und die erfrischende Unbefangenheit. Hier wird keine These illustriert, keine stilistische Haltung pointiert. Auch nicht ein zuvor detailliert ausgefeiltes Konzept in entsprechende Bilder umgesetzt oder den Menschen eine bestimmte Pose vor der Kamera auferlegt. Hier herrscht vielmehr die reine Neugierde des fotografischen Autors auf Menschen vor. Obendrein künden seine Bilder von einem Blick, der sich souverän zu seiner Subjektivität bekennt. Wer jetzt, nicht zuletzt durch das Stichwort der Subjektivität, allem Erwähnten zum Trotz dennoch in den Bildern die verkrampften Klimmzüge postmoderner Kunstfotografie erwartet, sieht sich ge-täuscht und zugleich ent-täuscht. Stattdessen begegnet uns eine Fülle von Gesichtern ohne hervorstechende Merkmale, und prominent ist auch nur eines, individuell alle.
Die meisten scheinen freundlich, viele lächeln, einige haben den Fotografen geortet und blicken zurück, andere blicken erstaunt, wieder andere konzentriert. Was sie erstaunt, auf was sie sich konzentrieren, spart der Kamerablick aus. Subtil überlasst es Raabe unserer Phantasie. Manche Gesichter sind ernst, nachdenklich oder auch gedankenverloren. Ganz selten schauen wir hingegen in mürrische und missmutige Gesichter. Ein seltsamer Kontrast zu den Erfahrungen, die wir gewöhnlich auf den Straßen und den Plätzen deutscher Städte machen.
Als ich die Bilder zum ersten Mal ansah, die Hans Jürgen Raabe bei der 13. documenta in Kassel realisiert hat, schoss mir unwillkürlich durch den Kopf, dass er sie unmöglich anlässlich einer der professionellen Previews, jenem berühmt-berüchtigten Auftrieb des internationalen Kunstbetriebs, aufgenommen haben konnte. Nicht, weil ich auf keinem Bild einen der umtriebigen Kunstbetriebler zu erkennen vermochte, die mir aus langjähriger Praxis vertraut sind. Vielmehr weil keines der Gesichter die verdrossene, gelangweilte und schlecht gelaunte Mimik zur Schau trägt, die zum kollektiven Habitus professioneller Besucher von Kunstereignissen, inzwischen wohl eher Events, gehört. Ein zusätzliches, vergleichsweise unwichtiges Indiz liefert das Bildnis einer Dame, die den Sonnenschutz vor ihrer Brille hoch geklappt hat, um die Kunstwerke zu betrachten – auf professionellen Previews wäre das ein ungewöhnliches Verhalten, wo man gerne Kunstwerke durch Sonnenbrillen betrachtet, am liebsten noch mit einem Smartphone am Ohr. In Kassel traf Raabe ausschließlich auf Menschen, die hauptsächlich zum Schauen in die Stadt gekommen waren. Wir erblicken sie in der Rolle, in die wir prompt schlüpfen, wenn wir die Bilder betrachten, die Raabe beim Betrachten beobachtet und fotografiert hat. Auf unerwartete Weise sehen wir uns plötzlich und unwillkürlich in das subtile Spiel einbezogen, welches das Projekt der „990 Faces“ unterhalb der Schwelle der Evidenz, also jenseits dessen, was ins Auge fällt, sozusagen auf leisen Sohlen entwickelt.
Daraus lässt sich zunächst einmal schlussfolgern, dass dieses umfangreiche Unternehmen erheblicher komplexer ist, als es sich dem flüchtigen Blick verrät. Dass zum Beispiel der Ort, der den Bildern einen geografischen Rahmen verleiht, unmittelbar in ihre innere Verfassung eingreift, ohne sich in den Vordergrund zu schieben und unsere Aufmerksamkeit von den Gesichtern abzulenken. Als greifbarer Ort ist er meistens nicht einmal sichtbar, obwohl er eigentümlich gegenwärtig ist, spürbar anwesend, wie zahlreiche Andeutungen in den verschiedenen Bildern dokumentieren – im Off gleichsam. Eine intensivere Musterung fördert das spezifische kulturelle Klima der Orte in der Regel ans Licht des Sichtbaren. Damit erhebt sich allerdings beinahe zwangsläufig die Frage nach der besonderen Qualität der Orte, die für zahlreiche Menschen Anlass ist, sie zu besuchen.
Direkt mit ihr ist eine weitere Frage verbunden: Von wo sind die Menschen angereist und weshalb? Mit ein wenig Vorwissen können wir schließen, dass kaum jemand von ihnen Einheimischer oder Einwohner ist. Dass mit anderen Worten die überwiegende Zahl der fotografierten Menschen eigens zu einem besonderen Zweck den Ort angesteuert hat, der ihnen Einlass in die Bilderwelt von Hans Jürgen Raabe gewährte. Mithin Menschen, von denen gesagt werden darf, dass sie unterwegs gewesen sind. Nicht zwangsläufig Touristen, sondern auch Pilger, Geschäftsreisende, Konsumenten, Schaulustige, Angestellte, Vergnügungssuchende...
Ja, Raabes Bilder sind Porträts. Sie verdienen passgenau die Bezeichnung, wenn man Gottfried Böhms plausible Definition eines gelungenen Porträts heranzieht. Danach ist das Porträt das Bild eines Menschen, den wir kennen oder zu kennen glauben, ohne ihn vorher jemals gesehen zu haben. Porträts sind demzufolge Bilder von Menschen, die sich aus sich selbst erklären und nicht äußerlicher Kennzeichen bedürfen, um die Porträtierten als Repräsentanten eines fest umrissenen Typus von Menschen wiederzugeben, sei es als Typus einer sozialen Schicht, eines Berufszweiges, einer Alterskohorte oder sei es lediglich als Charaktertyp. Der Doorman und der Polizist auf der 5th Avenue sind wie der Betrachter eines Kunstwerkes auf der documenta in erster Linie menschliche Subjekte und nicht Exponenten einer Rolle, die ihnen die Gesellschaft oder der Fotograf zugewiesen hat. Mehr wollen und sollen die Bilder über sie nicht preisgeben. Die Integrität der Menschen bleibt erhalten.
Trotz seiner Annäherung wahrt Hans Jürgen Raabe Distanz. Er wahrt eine Grenze, die seine Bilder nicht überschreiten. Womöglich ist es gerade diese Diskretion, eine Gratwanderung mit Sicherheit, die uns, einmal an der Angel des Fotografen, beinahe automatisch zu weiteren Fragen führt: Wer begegnet uns in diesen Bildern? Was tun die Menschen, wenn sie sich nicht an dem Ort befinden, an dem sie fotografiert worden sind? Sind es gute oder böse Menschen? Was denken sie? Die Antworten sind Sache der Betrachter. Raabe soziologisiert nicht und er psychologisiert noch weniger. Natürlich leitet ein starkes Interesse seinen Blick durch die Kamera, diesen Menschen abzubilden und jenen nicht. Beim Oktoberfest erkennen wir sogar den einen oder den anderen, den wir „einen Typ“ nennen, wenn wir ein Original meinen. Deshalb leitet uns das eindringliche Schauen schließlich zu der Einsicht, dass wir eigentlich nicht eben viel durch Bilder über die fotografierten Menschen erfahren. Unbeschadet dessen bilden wir uns beim Anschauen ein Urteil. Wir werten, wir empfinden Sympathie oder Antipathie, je nachdem. Häufig werden wir bei der Urteilsfindung das Opfer eigener Vorurteile. Häufiger als wir glauben. Nicht zuletzt, weil wir zu wissen glauben, was wir sehen. Ein Mechanismus im Übrigen, den die moderne Hirnforschung bestätigt. Vielleicht eine Folge dessen, dass wir blind das Licht der Welt erblicken – ohne jede Seh-Erfahrung im Leib der Mutter.
Es sind die leisen Brüche in Raabes Bildern, die derlei Reflexionen befördern, die unerwarteten, vermeintlich nebensächlichen Details: Da trinkt einer, der augenscheinlich nicht zu den Besuchern des Oktoberfestes zählt, ein Glas Champagner statt einer Maß. Oder in Marrakesch tragen mindestens so viele Männer Kopfbedeckungen wie Frauen Kopftücher oder Hüte. In Deutschland – habe ich den Eindruck – sind die Männer mit Kopfbedeckungen gegenüber den Frauen sogar in der Überzahl. Die Mode hat es eingerichtet. Die Religion fordert kein Bekenntnis in dieser Form. Oder: in Myanmar bevölkern die Straßen ebenso viele Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft wie in Berlin und in den übrigen deutschen Städten. Was uns bei bloß oberflächlichem Blick auf die Bilder entgeht. Darüber hinaus ist der auch Produkt eines Vorurteils aufgrund „wissenden“ Unwissens.
Dabei soll der prinzipiell egalisierende Effekt des Kamerabildes nicht gering geschätzt werden. Er bringt den Zug der Ähnlichkeit der Menschen unvermittelter hervor als die unmittelbare Anschauung. Evolutionstechnisch sind die Menschen sich ohnehin ähnlich – obwohl Rassisten es leugnen. Umso höher der Anspruch der Bilder von Hans Jürgen Raabe an uns Betrachter. Ein Satz von Montesquieu, leicht abgewandelt, illustriert, worum es geht: Die Intelligenz bestehe darin, dass wir die Ähnlichkeit der verschiedenen Menschen und die Verschiedenheit der ähnlichen Menschen erkennen.
Die Gesichter, die Raabe uns zeigt, haben einen ungeheuer befreienden Effekt. Sie zwingen uns keine kanalisierte Sicht auf die fotografierten Menschen auf. Sie überlassen uns die Urteilsfindung. Andererseits bedeutet Freiheit auch Entscheidung. Auf die Gefahr, sich zu irren. Raabe nimmt die demokratisierende Wirkung des Mediums Fotografie ernst. Die große Kunst seiner Bilder äußerst sich in dem Umstand, dass die Ausstrahlung seiner Modelle nicht vom künstlerischen Wollen überschattet wird, da sich seine Kunst in einer quasi kunstlosen Ästhetik manifestiert. Was außerordentlich schwer ist – im Kino wäre der Roberto Rossellini seines wunderbaren Franziskus-Films ein vergleichbares Beispiel.
Womöglich erkennen wir uns in den Porträts von Hans Jürgen Raabe auch aus diesem Grunde wieder, wenn wir einmal nicht missmutig und schlecht gelaunt sind. Auch wenn wir es ungern zugeben würden. Doch wir sind faktisch die fotografierten Menschen. Wer war nicht bereits an den fotografierten Orten? Manche waren es gleich mehrmals. Erheblich weniger als unsere Vorfahren sind wir an die Orte gefesselt, in denen wir geboren und aufgewachsen sind. Die meisten in den modernen Wohlstandgesellschaften wechseln gleich mehrfach den Ort ihrer Aufenthalte während des Lebens. Freiwillig werden wir zu Migranten, die kaum noch Wurzeln fassen wollen und können.
So hat Hans Jürgen Raabe der Gattung des Porträts eine echte Neuerung zugefügt. Er hat das ambulante Porträt geschaffen. Das Bildnis eines nicht sesshaften Menschen. Nolens volens unser aller Porträt.
What makes them gods is their countenance.
They do not find veneration through themselves, only through the wonders of art.
(Hildebert of Lavardin, 12th century)
By Klaus Honnef
Sometimes it's like finger-wagging. Whoever can no longer look into the face of the opponent and finally avoids has lost. In some Western countries, winners are considered particularly assertive, "straight". In Asia, such rituals are merely an expression of colossal rudeness. It is considered unseemly to look at one's interlocutors and intrusive to fixate on them penetratingly. Strictly devout Muslim women cover their faces. At most, they leave their eyes uncovered, and sometimes not even those, to protect themselves against the curiosity perceived as challenging in the faces of foreign observers. Even in Europe, the attempt to study the face of others intensively would seem challenging and sometimes result in painful reactions for the observers. Unless, of course, one is a doctor or a border guard. In earlier times, only God or the secular ruler had the right to look at his subjects. It was not until the Pantocrator, the divine ruler of the world, descended from the dome of the apse and, in the form of the icon, returned the human gaze at eye level, so to speak, that the hour of the human subject struck. Individualism began to unfold. A mirror only allows us to look at our own face.
Nevertheless, we are constantly looking into the faces of other people and scrutinising them. Everywhere in the world, and the exceptions hardly matter. However, it is not done directly, as it were unveiled, but via a diversion, more precisely via a material instance of mediation, via a picture. Photography has made it possible for us to look into other people's faces without fear of unpleasant reactions. Moreover, the precursor of the photographic camera, the camera obscura, already allowed us to look at others without being seen and caught. The age of surveillance began early. In the meantime, teleoptics are doing the business. That's why some people consider the view of others from a distance to have traits of lascivious voyeurism - a popular theme in Western art, by the way, since it began to focus on the visible world.
Why do such thoughts come to my mind, of all things, when looking at the faces of one of the most ambitious and demanding photographic projects of the still young 21st century: in view of Hans Jürgen Raabe's "990 Faces"? And why have I never thought about these specifically cultural contexts in the past when dealing with the subject of images of people, in short, the portrait in photography and painting? Probably precisely because of this? Because Raabe's pictures inevitably evoke such thoughts?
The accurate reproduction of the human face is called a portrait. In ancient societies, the portrait was reserved for rulers, emperors, army commanders, tribunes, consuls, senators, rhetors and the dead of influential exponents. Often, however, in idealising and typifying versions. The portrait is the most successful genre of Western pictorial art. At the end of his project, Hans Jürgen Raabe will have collected 990 faces in 33 different places all over the world with his camera. How many he has looked into through the camera's viewfinder must remain an open question.
Perhaps a few rather cursory answers to my questions already give an important indication of the special quality of the photographic endeavour. Curiously, they rarely or never intrude when I consider the most common aesthetic formats of the modern human image in photography, as there are the "psychological portrait", the "image" or the "type portrait". The psychological portrait has gone out of fashion since art conquered photography. Or was it the other way round? Hans Jürgen Raabe's "990 Faces" visibly do not fall into any of these three categories. Neither the effort to penetrate behind the façade of the human face, so to speak, by means of sophisticated lighting and camera angles, in order to expose something like a state of mind or even a soul, can be discerned, nor the intention to press the photographed people into an ethnic, social or other kind of grid or to give them a glamorous image. Not even the affinity of the portrait to the passport photo is up for discussion in these pictures. Here, a view of people obviously prevails that is open in principle, that does not approach them with a pre-judgement, even if it is a humanistic one, such as Edward Steichen designed in his exhibition "Family of Man". An open view that is only limited by the technical conditions of the portrait as the product of a camera image.
But the exceptionality of Hans Jürgen Raabe's project is by no means exhausted in this point. In order to explore its qualities, it is therefore necessary to look not only at the faces photographed, but also at the places where they were captured. These are not just any places. All of the selected places have a specific character. Many people are attracted to them. They travel there, visit them for days, sometimes only hours. Very few settle permanently. At times, some places have several times their usual number of inhabitants. So far, Raabe has photographed in Myanmar, in Lourdes, at the Wies'n in Munich on the occasion of the Oktoberfest, in Marrakesh: furthermore, on 5th Avenue in Manhattan from the Flatiron Building up Town, in Kassel during the 13th documenta, in Istanbul at the Bosporus, at the Eiffel Tower in Paris, at the Brandenburg Gate in Berlin as well as in Papua, Papua, New Guinea.
Not all places would be apostrophised as tourist destinations. Some are, without a doubt. When their names are called, they promptly trigger certain ideas in most people. Quite a few know them from personal experience. Among the destinations are places of pilgrimage, of very different kinds, such as Lourdes and Kassel. Others symbolise an entire city, the Eiffel Tower, 5th Avenue, the Brandenburg Gate. They are their landmarks. Although they are not explicitly mentioned in the title of the photographic project "990 Faces", they nevertheless play a central role.
Hans Jürgen Raabe visualises his work in 33 large-format, perfectly printed illustrated volumes. The number of volumes is based on the number of places he has selected and will select in the future. This not only indicates the importance of the individual locations for structuring the entire project. In addition, the photographer marks them by introducing each volume with ten so-called photographic "stills". They seem like random spots on the locations of the photographic events, and it is difficult for the fleeting eye to identify where it is in each case. But that is also the programme. For Raabe avoids the clichés that have become about the places in the course and their signals of recognition. In this way, he provokes a second, more attentive gaze in the viewer. This is all the more noticeable because the photographer, for his part, deliberately shows clichés; admittedly others than we associate with the specific places.
The visual encirclement of the chosen places is embedded in an introductory text by Hans-Michael Koetzle in several world languages, which remains constant from volume to volume. After this overture, 30 pictures of people are lined up, always placed full-page on the printed page. Most of them are just their faces, frontal, in profile and in the many facets of profile, half, quarter, eighth and lost profile. In addition, there are a few portraits of breasts and sometimes also full-body formats. Raabe unfolds the entire range of the portrait genre. All the pictures are landscape formats and all are colour pictures taken with a digital camera. With the exception of due colour adjustments, however, they are not subjected to any elaborate post-production with profound changes.
Now that Hans Jürgen Raabe has completed one third of his journey, there is no doubt that with "990 Faces" a unique photographic work is in the making. Unique in the history of the visual arts and no less incomparable. Its incomparability is paradoxically proven by some obvious comparisons. For example, with August Sander's legendary undertaking to create a typologically exaggerated pictorial atlas of German society during the first half of the 20th century. Or with Edward Steichen's aforementioned humanity panorama "The Family of Man", the most successful photographic exhibition of all time. What separates Raabe's project from these great picture designs is their complete lack of prejudice and refreshing impartiality.
No thesis is illustrated here, no stylistic stance is pointed out. Nor is a previously detailed concept translated into corresponding images or a particular pose imposed on the people in front of the camera. Rather, the pure curiosity of the photographic author about people prevails here. On top of that, his pictures announce a view that confidently admits to its subjectivity. Those who, not least because of the keyword subjectivity, nevertheless expect the cramped clamps of post-modern art photography in the pictures, will be disappointed and disappointed at the same time. Instead, we are confronted with a plethora of faces without salient features, and only one is prominent, individually all of them.
Most seem friendly, many smile, some have located the photographer and are looking back, others look amazed, still others are concentrated. What they are amazed at, what they are concentrating on, is left out of the camera view. Subtly, Raabe leaves it to our imagination. Some faces are serious, thoughtful or even lost in thought. Very rarely, on the other hand, we look into sullen and disgruntled faces. A strange contrast to the experiences we usually have on the streets and squares of German cities.
When I first looked at the pictures Hans Jürgen Raabe had made at the 13th documenta in Kassel, I couldn't help thinking that he couldn't possibly have taken them at one of the professional previews, that notorious boost to the international art world. Not because I couldn't recognise any of the busy art business people in any of the pictures, who are familiar to me from many years of practice. Rather, because none of the faces displayed the sullen, bored and bad-tempered facial expressions that are part of the collective habitus of professional visitors to art events, or rather events in the meantime. An additional, comparatively unimportant indication is provided by the portrait of a lady who has folded up the sunshade in front of her glasses to look at the artworks - this would be unusual behaviour at professional previews, where people like to look at artworks through sunglasses, preferably still with a smartphone to their ear. In Kassel, Raabe met only people who had come to the city mainly to look. We catch sight of them in the role we promptly slip into when we look at the pictures Raabe observed and photographed while looking at them. In an unexpected way, we suddenly and involuntarily see ourselves involved in the subtle game that the project of the "990 Faces" develops below the threshold of evidence, i.e. beyond what meets the eye, on silent soles, so to speak.
From this it can be concluded, first of all, that this extensive undertaking is considerably more complex than it reveals itself to the cursory glance. That, for example, the place that gives the pictures a geographical frame intervenes directly in their inner condition without pushing itself into the foreground and distracting our attention from the faces. As a tangible place, it is usually not even visible, although it is peculiarly present, tangibly present, as numerous hints in the various pictures document - off-screen, as it were. A more intensive patterning usually brings the specific cultural climate of the places to the light of the visible. However, this almost inevitably raises the question of the special quality of the places, which is the reason for many people to visit them.
Directly linked to this is another question: Where did the people come from and why? With a little prior knowledge, we can conclude that hardly any of them are locals or residents. In other words, the vast majority of the people photographed have travelled to the place that granted them entry into Hans Jürgen Raabe's world of images for a special purpose. In other words, people who can be said to have been on the road. Not necessarily tourists, but also pilgrims, business travellers, consumers, onlookers, employees, pleasure seekers ...
Yes, Raabe's pictures are portraits. They deserve to be called portraits if we take Gottfried Böhm's plausible definition of a successful portrait. According to this definition, a portrait is the image of a person we know or think we know without ever having seen him or her before. According to this definition, portraits are pictures of people that explain themselves and do not require external characteristics to show the portrayed person as a representative of a clearly defined type of person, be it a type of a social class, a profession, an age cohort or merely a character type. The doorman and the policeman on 5th Avenue, like the viewer of a work of art at documenta, are first and foremost human subjects and not exponents of a role assigned to them by society or the photographer. The pictures do not want to and should not reveal anything more about them. The integrity of the people is preserved.
Despite his approach, Hans Jürgen Raabe keeps his distance. He maintains a boundary that his pictures do not cross. Perhaps it is precisely this discretion, a tightrope walk with certainty, which, once on the photographer's hook, leads us almost automatically to further questions: Who are we meeting in these pictures? What are the people doing when they are not in the place where they have been photographed? Are they good or bad people? What are they thinking? The answers are up to the viewer. Raabe does not sociologise and he psychologises even less. Of course, a strong interest guides his gaze through the camera to depict this person and not that. At the Oktoberfest, we even recognise one or the other, whom we call "a guy" when we mean an original. That's why the insistent looking finally leads us to the realisation that we actually don't learn very much about the photographed people through pictures. Irrespective of this, we form a judgement when we look at them. We judge, we feel sympathy or antipathy, as the case may be. Often we become the victim of our own prejudices when making our judgements. More often than we think. Not least because we think we know what we see. A mechanism, incidentally, that modern brain research confirms. Perhaps a consequence of the fact that we see the light of day blindly - without any visual experience in our mother's womb.
It is the quiet breaks in Raabe's pictures that encourage such reflections, the unexpected, supposedly insignificant details: someone who is obviously not a visitor to the Oktoberfest drinks a glass of champagne instead of a Maß. Or in Marrakech, at least as many men wear head coverings as women do headscarves or hats. In Germany - I have the impression - the men with head coverings even outnumber the women. Fashion has set it up. Religion does not demand this kind of confession. Or: in Myanmar, the streets are populated by just as many people of different ethnic origins as in Berlin and the other German cities. What we miss with a merely superficial glance at the pictures. Moreover, it is also the product of a prejudice based on "knowing" ignorance.
At the same time, the basically equalising effect of the camera image should not be underestimated. It brings out the trait of similarity between people more immediately than direct observation. In evolutionary terms, people are similar anyway - although racists deny it. This makes Hans Jürgen Raabe's pictures all the more demanding of us viewers. A sentence by Montesquieu, slightly modified, illustrates what it is all about: intelligence consists in our recognising the similarity of different people and the difference of similar people.
The faces Raabe shows us have a tremendously liberating effect. They do not impose on us a channelled view of the people photographed. They leave it up to us to make a judgement. On the other hand, freedom also means decision. At the risk of being wrong. Raabe takes the democratising effect of the medium of photography seriously. The great art of his pictures manifests itself in the fact that the radiance of his models is not overshadowed by the artistic will, because his art manifests itself in a quasi artless aesthetic. Which is extraordinarily difficult - in cinema, Roberto Rossellini's wonderful Francis film would be a comparable example.
This is probably one of the reasons why we recognise ourselves in Hans Jürgen Raabe's portraits when we are not disgruntled and in a bad mood. Even if we would hate to admit it. But we are, in fact, the people photographed. Who has not been to the photographed places? Some have been there several times. Much less than our ancestors, we are tied to the places where we were born and grew up. Most people in modern affluent societies change their place of residence several times during their lives. We voluntarily become migrants who hardly want to or are able to put down roots.
Thus Hans Jürgen Raabe has added a real innovation to the genre of the portrait. He has created the ambulant portrait. The portrait of a non-settled person. Nolens volens, the portrait of us all.
Von Hans Michael Koetzle
Die Debatte ist alt. So alt wie die Fotografie selbst. Kann die Kamera, dieses kalte, kantige, technische, quasi selbsttätige Tool menschliches Wesen plausibel erfassen, Charakter erschließen, so etwas wie Seele offenbaren? Die Maler sagten entschieden: nein. Allein das in mühevoll langen Sitzungen erarbeitete „Simultanporträt“, das die verschiedenen Facetten eines Menschen zusammenführe, quasi zur Deckung bringe, sei in der Lage, ein stimmiges, gleichsam ewiges Bild zu stiften. Die Fotografie, keine Frage, hat die Malerei beerbt. Speziell Porträt bedeutet im technischen Zeitalter ein fotografisches Porträt. Womit die Frage nach der Gültigkeit einer Bildnis Studie keineswegs beantwortet ist. Suchten die Kunstfotografen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihr Heil in vorbereitenden Gesprächen, um im Moment einer vermeintlichen Öffnung ihres Gegenübers die Platte zu belichten, dann setzte die Avantgarde der 1920er und 30er Jahre auf die Serie, die Reihe, die Sequenz. „Man muss ganz klar feststellen“, so Alexander Rodtschenko, der russische Konstruktivist, Gestalter, Fotograf, „dass seit dem Aufkommen von Fotodokumenten keine Rede mehr von irgendeinem einheitlichen ewigen Porträt sein kann. Mehr noch, der Mensch ist keine Summe, er ist eine Vielzahl von Summen, die manchmal auch völlig gegensätzlich sind.“ Rodtschenko plädiert für die Momentaufnahme. Er plädiert für eine „Vielzahl von Momentaufnahmen“. Er plädiert für ein Mosaik aus zufälligen Bildern: „Je weniger von einem Menschen authentisch ist, um so romantischer und interessanter ist er.“ Auch Hans-Jürgen Raabe glaubt an die Momentaufnahme, an die Magie des Augenblicks. Auch er definiert sich über Serien, über konzeptionell vor gedachte Reihen und Sequenzen. Auch er unterwirft sich der Mühe langer, ausgreifender Projekte. Sein aktuelles wird sich wohl über viele Jahre ziehen. Woran Raabe nicht glaubt, ist die flüchtige Begegnung als Chance, das Wesen eines Menschen zu erschließen.
Raabes Domäne ist das Menschenbild. Aber nicht im Sinne von Porträt bzw. Seelenkunde. Was Raabe interessiert, ist die soziologische Seite unseres Menschseins. Das Miteinander unterschiedlichster Typen, Gestalten, Existenzen, so normal oder bizarr, charismatisch oder grau sie auch immer sein mögen. Für Raabe ist die Kamera nicht Stethoskop, sondern Botanisiertrommel. Eine magische Büchse, die ihn zum Hinschauen zwingt, zum bewussten Sehen, was, wie Jean-Christophe Ammann meint, für sich allein ein großes Glück bedeuten kann. Bereits der Titel – „990 Faces“ – kündigt es an: Hier geht es um Gesichter. Nicht um Charaktere. Hier geht es um Erscheinung. Aber nicht wie bei Richard Avedon, der sich expressis verbis für die Oberfläche, die menschliche Maske interessierte. Raabe nimmt die Leute wie sie sind, wie sie sich geben im öffentlichen Raum. Darauf fußt sein Konzept, zu dem auch Intuition, Vorausschau, blitzschnelles Agieren gehören. „Der richtige Augenblick zur Betätigung des Auslösers ist gekommen, wenn man ein Objekt auf eine neue Weise sieht“, sagt Susan Sontag. Raabes Bilder sind erhaschte, im Bruchteil einer Sekunde erfasste Momente, ungestellt, ungeschönt, direkt, präzise im Ausschnitt, dabei voller Poesie. Und – sparsam in den bildnerischen Mitteln sprich: Keine gesuchte Avantgarde. Raabe erfasst Menschen, die stellvertretend für viele andere Menschen stehen: Kinder für Kinder, Alte für Alte, Frauen für Frauen, darunter schöne, aber auch solche, mit denen es das Leben nicht unbedingt gut gemeint hat. Was sich so formt, ist eine große Welterzählung. Nicht als Neuauflage jener „Family of Man“-Idee, wie sie in den 1950er Jahren Furore gemacht hat. Raabe ist kein Romantiker, und die Vorstellung von einer für die Museumswand inszenierten Menschen Familie ist ihm fremd. Andererseits gilt es, heute mehr denn je, global zu denken, die Erde ganzheitlich und vernetzt zu sehen. Ein bunter Planet, dessen Buntheit sich allenthalben und auch im Kleinen spiegelt. Das sind die Fragen, die Hans-Jürgen Raabe umtreiben – und auf die er fotografierend eine Antwort sucht. Dass er sich nur selten für „die monumentalen Leistungen der Menschheit, wie Hochhäuser, Brücken und Straßen“ interessiere, geschehe keineswegs „aus mangelnder Anerkennung ihrer Größe oder Schönheit“, hat Henri Cartier-Bresson einmal bekannt, „sondern einfach deswegen, weil mich am Menschen das menschliche Wesen vor dem Erbauer interessiert; was er baut, hat bis zu einem gewissen Grad Bestand, während der Ausdruck seines Wesens im Bruchteil einer Sekunde aufgeschnappt werden kann oder einem entgeht. Diesen Bruchteil einer Sekunde einzufangen, stellt meiner Meinung nach die bedeutendste Leistung der Fotografie dar.“ Die Fotografie als Chance, das Ephemere zu bannen, den Lauf der Dinge anzuhalten, ihm eine klar umrissene Botschaft zu entlocken – das ist es, was auch Hans-Jürgen Raabe reizt, ohne dass er dem viel zitierten „entscheidenden Augenblick“ nacheifern würde. Seine Bilder sind weniger narrativ als meditativ, weniger erzählend als reflektierend. Eine Geschichte formt sich in der Summe, wenn Gesichter und Stills in strenger Auswahl aufeinandertreffen.
Raabe ist Sammler. Auch ihn fasziniert zunächst jener dokumentarische Kern, der jeder Fotografie innewohnt. Das „So-ist-es gewesen“, zu dem sich, im Fall des gestaltenden Künstlers das Wissen gesellt, ein einzigartiges, singuläres Bild gestiftet zu haben. Raabe inszeniert nicht, blitzt nicht, manipuliert nicht am Computer. Was ihn reizt, ist die ungestellte Wirklichkeit und das Vermögen der Kamera, ein klar definiertes Stück aus Raum und Zeit herauszuschneiden. „Der Abenteurer in mir fühlte sich verpflichtet, mit Hilfe eines flinkeren Instruments als dem Pinsel die Narben der Welt zu bezeugen“, so noch einmal Cartier-Bresson. Auch Raabe, 1952 geboren, gelernter Fotograf, dazu schreibender Journalist, Verleger, Publizist, schaut wach und ausgerüstet mit einem handelsüblichen Fotoapparat auf diese Welt. Aber es sind nicht die Narben, die ihn interessieren, nicht Kriege und Konflikte sind es, die ihn bewegen. Bewusst sucht Raabe Orte, die einer eher zivilen Ausstrahlung gehorchen. Ob Myanmar, Lourdes oder das Oktoberfest, Marrakesch oder die Fifth Avenue: Zum Fluchtpunkt seiner Arbeit bestimmt Raabe Plätze, die eine Art ponderierten Ausnahmezustand spiegeln, eine Form besonderer Normalität oder vice versa normaler Besonderheit. Geht sein Konzept auf, dann wird er am Ende dreiunddreißigmal losgezogen sein, um der Magie eines Ortes nachzuspüren, ohne dass der Ort selbst zum Thema würde. Er ist nur die Bühne, die Plattform für Menschen, die so besonders sind wie normal, individuell wie durchschnittlich. Dreiunddreißig Orte. Je dreißig Menschen-Bilder. Auch diese rigorose Beschränkung ist Teil einer klar umrissenen gedanklichen Struktur. Raabe weiß: Mehr ist nicht mehr. Aber weniger wäre nicht genug. Was er sagen möchte: Es lässt sich plausibel in dreißig Aufnahmen erzählen. Dazu zehn Stills als eine Art Prolog, nicht erklärend, nicht journalistisch eher enigmatisch: Der Geist eines Ambientes als Rätsel über allem. Im Porträt – sei es Bildnis oder schlicht Gesicht – spiegeln sich immer zwei: Der Porträtierte und sein Fotograf. Bei Raabe gibt es keine Interaktion. Er drängt sich nicht auf, mischt sich nicht ein. Sein Handeln bleibt diskret. Wenn der Fotograf Hans-Jürgen Raabe in seinen Bildern kenntlich wird, dann durch seine Neugier gepaart mit Demut, sein Interesse gepaart mit Respekt, seinen unbedingten künstlerischen Willen ohne aufgesetztes Künstlertum. „Schau an, was dich anschaut“, lautet eine seiner Devisen. So gesehen ist seine Fotografie auch eine Schule des Sehens oder besser: Eine Aufforderung, das Sehen neu zu lernen. Mit offenen Augen, aber blind gehen wir durch die Welt. Hans-Jürgen Raabe hält mit seiner Kamerakunst dagegen. Schaut Menschen an, schaut ihnen ins Gesicht, erträgt ihren Blick. Was so entsteht, sind „große stille Bilder“, um einen Begriff des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz aufzugreifen. Nicht nur stemmen sie sich gegen eine grassierende Gleichgültigkeit im Alltag. Sie opponieren auch gegen das Flimmern und visuelle Rauschen allenthalben. „Gute Fotos“, sagt Norbert Bolz, „sind Zäsuren im unendlichen Roman der Wahrnehmung.“ Raabes Aufnahmen funktionieren als Solitäre. Im Buch steht jedes Bild für sich. Pro Band formen sie – im Verein mit den Stillleben – eine Geschichte. In der Summe der Geschichten eine Utopie. Hans-Jürgen Raabe scheut alles Belehrende. Er folgt keinem Dogma. Und doch wird klar, worum es bei „990 Faces“ geht – um das Abenteuer Mensch.
By Hans Michael Koetzle
The debate is old. As old as photography itself. Can the camera, this cold, angular, technical, quasi-automatic tool, plausibly capture human essence, reveal character, reveal something like soul? The painters said decisively: no. Only the "simultaneous portrait," worked out in painstakingly long sessions, which brings together the various facets of a person, virtually brings them together, is capable of creating a coherent, quasi-eternal image. There is no question that photography has inherited painting. Especially portrait means in the technical age a photographic portrait. Which by no means answers the question of the validity of a portrait study. If the art photographers of the late 19th century sought their salvation in preparatory conversations in order to expose the plate at the moment of a supposed opening of their counterpart, then the avant-garde of the 1920s and 30s relied on the series, the row, the sequence. "It must be stated quite clearly," said Alexander Rodchenko, the Russian Constructivist, designer, photographer, "that since the advent of photographic documents there can no longer be any question of any uniform eternal portrait. More than that, man is not a sum, he is a multiplicity of sums, sometimes completely contradictory." Rodchenko argues for the snapshot. He pleads for a "multiplicity of snapshots." He argues for a mosaic of random images: "The less of a person is authentic, the more romantic and interesting he is." Hans-Jürgen Raabe also believes in the snapshot, in the magic of the moment. He too defines himself by series, by conceptually preconceived series and sequences. He, too, subjects himself to the effort of long, expansive projects. His current one will probably drag on for many years. What Raabe doesn't believe in is the fleeting encounter as a chance to unlock the essence of a person.
Raabe's domain is the human image. But not in the sense of portraiture or soul-searching. What interests Raabe is the sociological side of our humanity. The coexistence of the most diverse types, figures, existences, however normal or bizarre, charismatic or gray they may be. For Raabe, the camera is not a stethoscope but a botanizing drum. A magic box that forces him to look, to see consciously, which, as Jean-Christophe Ammann believes, can mean great happiness in itself. The title - "990 Faces" - already announces it: This is about faces. Not about characters. This is about appearance. But not like Richard Avedon, who was expressis verbis interested in the surface, the human mask. Raabe takes people as they are, as they present themselves in public space. This is the basis of his concept, which also includes intuition, foresight, lightning-fast action. "The right moment to activate the shutter has come when you see an object in a new way," says Susan Sontag. Raabe's images are caught moments, captured in a fraction of a second, unposed, unadorned, direct, precise in their cropping, yet full of poetry. And - sparing in the pictorial means, in other words: not a sought-after avant-garde. Raabe captures people who stand for many other people: Children for children, old for old, women for women, among them beautiful, but also those with whom life has not necessarily meant well. What is formed in this way is a great world narrative. Not as a new edition of that "Family of Man" idea that caused a furor in the 1950s. Raabe is no romantic, and the idea of a human family staged for the museum wall is alien to him. On the other hand, today more than ever, it is important to think globally, to see the earth holistically and interconnected. A colorful planet whose colorfulness is reflected everywhere and also in small things. These are the questions that drive Hans-Jürgen Raabe - and to which he seeks an answer through photography. The fact that he is rarely interested in "the monumental achievements of mankind, such as skyscrapers, bridges and roads" is by no means "due to a lack of appreciation of their greatness or beauty," Henri Cartier-Bresson once confessed, "but simply because what interests me about man is the human being before the builder; what he builds lasts to a certain extent, while the expression of his being can be picked up in a fraction of a second or escapes one. Capturing that split second represents, in my opinion, the most significant achievement of photography." Photography as an opportunity to capture the ephemeral, to stop the course of events, to elicit from them a clearly delineated message - this is what also appeals to Hans-Jürgen Raabe, without emulating the much-cited "decisive moment." His pictures are less narrative than meditative, less telling than reflecting. A story is formed in the sum, when faces and stills meet in strict selection.
Raabe is a collector. He, too, is initially fascinated by the documentary core inherent in every photograph. The "so-it-has-been," to which, in the case of the creative artist, is added the knowledge that he has created a unique, singular image. Raabe does not stage, does not flash, does not manipulate on the computer. What excites him is the unstaged reality and the camera's ability to cut a clearly defined piece out of space and time. "The adventurer in me felt compelled to bear witness to the scars of the world with the help of a more nimble instrument than the brush," Cartier-Bresson said again. Raabe, born in 1952, a trained photographer, plus a writing journalist, publisher, publicist, also looks at this world, awake and equipped with a standard camera. But it is not the scars that interest him, it is not wars and conflicts that move him. Raabe deliberately seeks out places that obey a more civil aura. Whether Myanmar, Lourdes or the Oktoberfest, Marrakech or Fifth Avenue: Raabe determines places as the vanishing point of his work that reflect a kind of pondered state of exception, a form of special normality or, vice versa, normal particularity. If his concept works out, then he will have set out thirty-three times in the end to trace the magic of a place, without the place itself becoming the subject. It is only the stage, the platform for people who are as special as they are normal, as individual as they are average. Thirty-three places. Thirty images of people each. This rigorous restriction is also part of a clearly defined mental structure. Raabe knows: more is not more. But less would not be enough. What he wants to say: it can be plausibly told in thirty shots. In addition, ten stills as a kind of prologue, not explanatory, not journalistic, but rather enigmatic: the spirit of an environment as a riddle above all. In a portrait - be it a portrait or simply a face - two are always reflected: the sitter and his or her photographer. With Raabe there is no interaction. He does not impose himself, does not interfere. His actions remain discreet. If the photographer Hans-Jürgen Raabe becomes recognizable in his pictures, then through his curiosity paired with humility, his interest paired with respect, his unconditional artistic will without put-on artistry. "Look at what looks at you," is one of his mottoes. Seen in this light, his photography is also a school of seeing, or rather: an invitation to learn to see anew. We go through the world with open eyes, but blind. Hans-Jürgen Raabe counters this with his camera art. He looks at people, looks them in the face, endures their gaze. What emerges are "great still images," to borrow a term from media scientist Norbert Bolz. Not only do they oppose a rampant indifference in everyday life. They also oppose the flicker and visual noise everywhere. "Good photographs," says Norbert Bolz, "are caesuras in the endless novel of perception." Raabe's photographs function as solitaires. In the book, each image stands on its own. Per volume, they form - in association with the stills - a story. In the sum of the stories, a utopia. Hans-Jürgen Raabe shies away from all that is instructive. He follows no dogma. And yet it becomes clear what "990 Faces" is all about - the human adventure.
Von Ludwig Seyfarth
Die vielleicht berühmteste Porträtserie in der Geschichte der Fotografie sind August Sander Menschen des 20. Jahrhunderts. 1924 in Angriff genommen, zielte das Großprojekt auf eine Art Gesamtporträt der deutschen Gesellschaft in der Weimarer Republik ab. Allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen meist frontal ins Bild gesetzte Personen stehen als Individuen vor uns, aber stets gekennzeichnet als Vertreter ihres Berufsstandes oder ihrer sozialen Gruppe, die sie gleichsam verallgemeinert repräsentieren. In repräsentativer Auswahl zeigt Sander uns eine Gesellschaft, in der jede/r seine/ihren festen Platz hat.
Wenn es heute ein vergleichbares Vorhaben gibt, sind es die 990 Faces, die Hans-‐Jürgen Raabe an unterschiedlichen Orten der Welt sukzessive fotografiert. Anders als bei Sander sind die Menschen, die Raabe uns zeigt, nicht „klassifiziert“, wir erfahren nichts über sie, außer den Ort, wo das jeweilige Foto ausgenommen wurde, und das, was wir auf den meist nur das Gesicht und wenig von der Umgebung zeigenden Aufnahmen sehen. Die Anonymität der Personen, gerade die Tatsache, dass wir nichts über sie wissen, verleiht ihnen eine unhintergehbare Individualität. Sie „repräsentieren“ weder Ethnie, sozialen Status, Beruf, sondern nur sich selbst. Die Menschen stehen nicht einmal für den Ort, an dem sie sich zum Zeitpunkt der Aufnahme befanden. Leben sie dauerhaft hier oder waren nur hier als Touristen hier oder für eine berufliche Aktivität, eine Pilgerreise, einen Studienaufenthalt oder weil sie Flüchtlinge sind?
Unterschiede legt allerdings die Auswahl der verschiedenen Orte nahe. Es gibt Plätze, an denen viele Menschen aus aller Welt zusammenkommen, so der Wallfahrtsort Lourdes, die 5th Avenue in New York, der Eiffelturm in Paris, das Brandenburger Tor in Berlin. Daneben stehen Orte und ganze Länder, an denen Raabe, wie auch die ethnische Einheitlichkeit der fotografierten Personen nahelegt, wohl vornehmlich Einheimische vor die Kamera geholt hat, so Grönland oder Papua ‐ Neuguinea. So erscheint allerdings auch die unterschiedliche ethnische Diversität in erster Linie als Kennzeichen des jeweiligen Ortes und weniger auf den einzelnen Menschen bezogen. Ohne auf eine moralische Botschaft oder einen populären Slogan angewiesen zu sein, führen die 990 Faces mit souveräner Selbstverständlichkeit vor Augen, dass alle Menschen einerseits gleich und anderseits völlig verschieden sind. Und das gelingt Raabe auf „nur“ 990 Fotografien und bereits auf denen, die bisher vorliegen. Dass das Vorhaben auf eine Vollständigkeit festgelegt ist, macht einen grundsätzlichen Unterschied zu Sanders Vorgehen aus und auch zu einem anderen Großprojekt, das sich den Menschen des 20. Jahrhunderts widmete.
Über Sander hinausgehend wollte der Fotograf Edward Steichen, Leiter der Fotografie Abteilung des MoMA, nicht nur eine bestimmte Gesellschaft, sondern die ganze Menschheit exemplarisch in Bildern vorführen. Die von Steichen konzipierte, 1955 zuerst in New York gezeigte und dann um die Welt reisende Ausstellung The Family of Man konnte nicht mehr auf den Aufnahmen eines einzigen Autors beruhen. Aus 10000 Bildern sowohl professioneller als auch Amateurfotografen kamen schließlich 503 Aufnahmen aus 68 Ländern in die Ausstellung. Die Menschheit wurde als große Familie wie auf einem Panorama vorgeführt. Nur dass ein Panorama alles auf einem Bild zeigt, The Family of Man einen repräsentativen Ausschnitt der Menschheit auf vielen einzelnen Bildern.
Nicht als Panorama, sondern als einen „Übungsatlas“ bezeichnete Walter Benjamin den Band Antlitz der Zeit, in dem August Sander 60 ausgewählte Fotos aus den Menschen des 20. Jahrhunderts 1929 veröffentlicht hatte. Bildatlanten kamen seit dem 18. Jahrhundert als Darstellungsmittel in immer mehr Wissenschaften zum Einsatz, etwa in der Geographie, Geschichte, Ethnologie, Mathematik, Astrologie, Botanik und Medizin. Doch kein Bildatlas hat so viele künstlerische und kulturwissenschaftliche Interessen auf sich gezogen wie der unvollendet gebliebene Mnemosyne-‐Atlas, für den der Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg in den 1920er Jahren zahlreiche Fototableaus arrangierte. Mit dem zusammengestellten Bildmaterial wollte Warburg aufzeigen, wie sich bestimmte Motive, die sogenannten „Pathosformeln“, über geschichtliche Zeiträume und über Kulturen hinweg gleichsam im Gedächtnis der Menschheit speichern und transformieren. Auch Warburgs Vorhaben ließe sich als „Übungsatlas“ interpretieren; mit dem Aufzeigen kulturübergreifender Zusammenhänge auch als ein Atlas der Globalisierung.
Dass Raabe die an den jeweiligen Orten fotografierten Faces zu einzelnen Tableaus zusammenstellt, erinnert an Warburgs Vorgehen, auch wenn Raabe heutige Präsentationsmöglichkeiten nutzt und nicht wie Warburg die Fotos mit Nadeln auf bespannte Leinwände heftet. Auch die Tatsache, dass die Anwesenheit der Menschen an den verschiedenen Orten auf Reisewegen und interkulturellen Verbindungen beruht, lässt – auch wenn es um heutige Gleichzeitigkeiten und nicht um historische Prozesse geht – den Vergleich mit den „Formwanderungen“ zu, die Warburg zu dokumentieren suchte. Raabes 990 Faces sind ein fotografischer Übungsatlas im Zeitalter der Globalisierung, der uns lehrt, jedem einzelnem Menschen unvoreingenommen ins Gesicht zu schauen. Es ist ein Atlas und kein Panorama, weil zwar ein Anspruch auf Repräsentativität, nicht aber auf Vollständigkeit besteht. Der Atlas stellt auch keine Auswahl aus einem wesentlich größeren Fundus oder Archiv dar. Wenn alle 990 Gesichter fotografiert sein werden, ist das Projekt abgeschlossen, sein per se fragmentarischer Charakter aber von vornherein festgelegt. So erinnert der auch in den noch nicht realisierten Etappen bereits schriftlich festgelegte Plan der 990 Faces weniger an das Vorgehen eines Dokumentaristen, als der sich August Sander sah. 1931 verkündete Sander in einem Rundfunkvortrag, das Wesen der gesamten Fotografie sei dokumentarisch. Raabe geht vielmehr fast wie ein konzeptueller Künstler vor. So bietet sich der Vergleich an mit dem 1971 begonnenen, auch unter dem Namen Everyone Alive bekannten Variable Piece No. 70 des New Yorker Künstlers Douglas Huebler an. Hueblers schriftlich niedergelegtes Konzept bestand darin, die Existenz jedes lebenden Menschen fotografisch zu dokumentieren, „um die authentischste und umfassendste Darstellung der Menschheit zu erreichen, die auf diese Weise zusammengestellt werden kann.“ Hueblers Vorhaben war naturgemäß bei weitem nicht vollständig realisiert, als er 1997 starb. Seine schnappschussartigen Schwarzweißaufnahmen und die 990 Faces sind vergleichbar darin, dass sie keine Porträts liefern, die repräsentativ für andere einstehen könnten. Während bei Huebler jedoch die Unmöglichkeit, das Konzept zu realisieren, bereits in ihm enthalten ist, bleibt Raabes Projekt von vornherein auf eine realisierbare Quantität begrenzt. So gelingt es, dass die 990 Faces in gewisser Weise repräsentativ, aber nicht repräsentationistisch sind.
Das „Konzept“ liegt vor, und es wird, wenn nichts dazwischenkommt, irgendwann „ganz nebenbei“ realisiert sein. Denn der Fokus liegt am Ende immer wieder auf den einzelnen Bildern, auf denen die Menschen uns häufig direkt direkt anblicken. Auch wenn wir, wie gesagt, nichts über sie wissen, „sprechen“ ihre Gesichter. Es sind keine Masken, zu denen, so die These des deutschen Kunsthistorikers Hans Belting in seinem Buch Faces. Eine Geschichte des Gesichts, die Fotografie das menschliche Gesicht tendenziell macht. Denn die fotografische Aufzeichnung macht es möglich, Gesichter jenseits des Ausdrucks und der Physiognomie als Identifikationsmittel zu nutzen.
Der französische Kriminologe Alphonse Bertillon entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts ein systematisches Messverfahren, welches das Gesicht nicht als Ausdruck der Persönlichkeit, sondern als Summe von Details analysierte, die statistisch ausgewertet werden konnten. Als zuverlässiger bei der Identifikation erwies sich schließlich der Fingerabdruck einer Person, bis der technische Fortschritt die erkennungsdienstlichen Verfahren wieder ins Gesicht zurückführte, genauer gesagt, ins Auge und zur Iriserkennung. „Unser eigener Blick auf ein Gesicht spielt für die amtliche Gesichtserfassung keine Rolle mehr“, konstatiert Belting. Seine Geschichte des Gesichts entwickelt sich einer Anthropologie der in fast allen Kulturen für unterschiedlichste Zwecke entwickelten Masken heraus, „die das Gesicht abbilden, aber keine Gesichter sind.“ Die für uns geläufige negative Konnotation der Maske sei allerdings nur auf die „westliche“ Welt begrenzt, denn „erst in der europäischen Sozial-‐ und Kulturgeschichte der Neuzeit wurde die Maske, statt als Stellvertreterin, eher als Lüge und Versteck des Gesichts verstanden.“
Und wenn die Gesichter der Werbung, von Models, Schauspielern oder Politikern uns oft wie Masken erscheinen, vermuten wir, dass sich ein „wahres“ Gesicht dahinter verbergen würde. Hans-‐ Jürgen Raabe reißt den Menschen, die er porträtiert, keine Maske vom Gesicht. Vielmehr stellt er sie uns so unvermittelt vor Augen, dass wir gar nicht erst darauf kommen, Maske und vermeintliches wahres Gesicht unterscheiden zu wollen. Das setzt aber auch voraus, dass wir über diese Menschen kein Wissen und damit auch keine Kategorien besitzen, anhand derer wir sie einordnen und beurteilen können, ohne sie zu kennen. Exemplarisch laden uns die 990 Faces dazu ein, allen Menschen so frisch und unbefangen zu begegnen, wie viele der fotografierten Personen in Hans-‐Jürgen Raabes Kamera blicken.
By Ludwig Seyfarth
Perhaps the most famous series of portraits in the history of photography is August Sander's People of the 20th Century. Begun in 1924, the large-scale project aimed at a kind of overall portrait of German society in the Weimar Republic. Individuals, usually portrayed frontally, alone, in pairs or in small groups, stand before us as individuals, but always marked as representatives of their profession or social group, which they represent in a generalised way, as it were. In a representative selection, Sander shows us a society in which everyone has a fixed place.
If there is a comparable project today, it is the 990 Faces that Hans--Jürgen Raabe successively photographs in different places around the world. Unlike Sander's work, the people Raabe shows us are not "classified"; we learn nothing about them except the place where the respective photo was taken and what we see in the photographs, which usually show only the face and little of the surroundings. The anonymity of the people, the very fact that we know nothing about them, lends them an inescapable individuality. They "represent" neither ethnicity, social status, profession, but only themselves. The people do not even stand for the place they were in at the time they were photographed. Do they live here permanently or were they only here as tourists or for a professional activity, a pilgrimage, a study visit or because they are refugees?
Differences, however, are suggested by the selection of the different places. There are places where many people from all over the world come together, such as the pilgrimage site of Lourdes, 5th Avenue in New York, the Eiffel Tower in Paris, the Brandenburg Gate in Berlin. In addition, there are places and entire countries where Raabe, as the ethnic uniformity of the people photographed also suggests, probably primarily brought natives in front of the camera, such as Greenland or Papua - New Guinea. Thus, however, the different ethnic diversity appears primarily as a characteristic of the respective place and less related to the individual person. Without relying on a moral message or a popular slogan, 990 Faces demonstrates with sovereign matter-of-factness that all people are equal on the one hand and completely different on the other. And Raabe succeeds in doing this in "only" 990 photographs and already in those that are available so far. The fact that the project is set on completeness makes a fundamental difference to Sander's approach and also to another large-scale project dedicated to the people of the 20th century.
Going beyond Sander, the photographer Edward Steichen, head of the photography department at MoMA, wanted to present not only a specific society but the whole of humanity in exemplary pictures. The exhibition The Family of Man, conceived by Steichen, first shown in New York in 1955 and then travelling around the world, could no longer be based on the photographs of a single author. From 10000 images by both professional and amateur photographers, 503 photographs from 68 countries were finally included in the exhibition. Mankind was presented as a large family, as if on a panorama. The only difference is that a panorama shows everything in one picture, while The Family of Man shows a representative section of humanity in many individual pictures.
Walter Benjamin described the volume Antlitz der Zeit (Face of Time), in which August Sander published 60 selected photographs of the people of the 20th century in 1929, not as a panorama but as an "exercise atlas". Since the 18th century, pictorial atlases have been used as a means of representation in more and more sciences, such as geography, history, ethnology, mathematics, astrology, botany and medicine. But no pictorial atlas has attracted as much artistic and cultural interest as the unfinished Mnemosyne Atlas, for which the Hamburg art historian Aby Warburg arranged numerous photographic tableaux in the 1920s. Warburg's aim was to show how certain motifs, the so-called "pathos formulas", are stored and transformed in the memory of mankind over historical periods and across cultures. Warburg's project could also be interpreted as an "atlas of practice"; by pointing out cross-cultural connections, it could also be interpreted as an atlas of globalisation.
The fact that Raabe compiles the Faces photographed at the respective locations into individual tableaus is reminiscent of Warburg's approach, even if Raabe uses today's presentation possibilities and does not, like Warburg, pin the photos onto covered canvases. The fact that the presence of the people in the various places is based on travel routes and intercultural connections also allows for comparison with the "form migrations" that Warburg sought to document - even if it is a matter of contemporary simultaneities and not historical processes. Raabe's 990 Faces is a photographic training atlas in the age of globalisation that teaches us to look each individual person in the face without bias. It is an atlas and not a panorama, because while there is a claim to representativeness, there is no claim to completeness. Nor does the atlas represent a selection from a much larger pool or archive. When all 990 faces have been photographed, the project will be completed, but its per se fragmentary character will have been determined from the outset. Thus the plan of the 990 Faces, already laid down in writing even in the stages that have not yet been realised, is less reminiscent of the approach of a documentarist, which is what August Sander saw himself as. In 1931, Sander announced in a radio lecture that the essence of all photography was documentary. Rather, Raabe proceeds almost like a conceptual artist. A comparison can be made with the Variable Piece No. 70 by the New York artist Douglas Huebler, which he began in 1971 and is also known as Everyone Alive. Huebler's written concept was to photographically document the existence of every living human being "in order to achieve the most authentic and comprehensive representation of humanity that can be assembled in this way." Huebler's intention was, by its very nature, far from fully realised when he died in 1997. His snapshot-like black and white photographs and the 990 Faces are comparable in that they do not provide portraits that could stand in representatively for others. But whereas in Huebler's case the impossibility of realising the concept is already inherent in it, Raabe's project remains limited from the outset to a feasible quantity. Thus, the 990 Faces succeed in being representative in a certain sense, but not representationist.
The "concept" is there and, if nothing interferes, it will be realised "quite incidentally" at some point. Because in the end, the focus is always on the individual pictures, in which people often look directly at us. Even if, as I said, we know nothing about them, their faces "speak". They are not masks, to which, according to the thesis of the German art historian Hans Belting in his book Faces. A History of the Face, photography tends to make the human face. For the photographic record makes it possible to use faces beyond expression and physiognomy as a means of identification.
At the end of the 19th century, the French criminologist Alphonse Bertillon developed a systematic method of measurement that analysed the face not as an expression of personality but as a sum of details that could be evaluated statistically. A person's fingerprint eventually proved to be more reliable in identification, until technical progress brought the recognition service procedures back to the face, or more precisely, to the eye and iris recognition. "Our own view of a face no longer plays a role in official facial recognition," Belting states. His history of the face develops out of an anthropology of masks developed in almost all cultures for the most diverse purposes, "which depict the face but are not faces." The negative connotation of the mask that is familiar to us is, however, limited to the "Western" world, for "it was not until the European social and cultural history of modern times that the mask, rather than being a stand-in, came to be understood as a lie and a hiding place for the face."
And when the faces of advertising, models, actors or politicians often seem like masks to us, we assume that a "real" face is hidden behind them. Hans-Jürgen Raabe does not tear a mask off the faces of the people he portrays. Rather, he presents them to us so abruptly that we do not even think of trying to distinguish between the mask and the supposed true face. But this also presupposes that we have no knowledge about these people and thus no categories by which we can classify and judge them without knowing them. Exemplarily, the 990 Faces invite us to encounter all people as freshly and unbiasedly as many of the photographed people look into Hans--Jürgen Raabe's camera.