CHINA: VON INNEN NACH AUSSEN
Normalität kann, wenn sie auf den Kopf gestellt wird, erstaunliche Einblicke gewähren, zum Beispiel in den Arbeiten von Huang Quingjun und Ma Hongjie. Seit 2005 porträtieren die beiden chinesischen Fotografen Familienwohnungen von innen nach außen: Möbel, Accessoires, Tiere und alles, fein säuberlich präsentiert - im Vorgarten. Die Fotoserie dokumentiert auf eindringliche Weise die durchschnittlichen Lebensbedingungen der Chinesen von heute und fängt die Fragilität eines vom Wandel geprägten Status quo ein.
Als Huang Qingjun und Ma Hongjie 2005 beschlossen, gemeinsam an ihrem Projekt "Family Stuff" zu arbeiten, wussten sie, dass es eine Weile dauern würde. Mit dem Ziel, chinesische Familien aus verschiedenen Regionen und mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund zu porträtieren, planten sie dieses Projekt wie eine Langzeitexpedition. Bislang ist eine Serie von 20 Bildern entstanden, die 2007 in der Fotogalerie 798 in Peking ausgestellt wurde. Zwei Bilder wurden auch auf der Paris Photo im vergangenen Jahr gezeigt. Im Jahr 2011 soll das Projekt mit insgesamt 50 Bildern und einem Buch abgeschlossen werden.
Für Huang ist dies nicht das erste Projekt, das sich auf Aspekte Chinas konzentriert, die möglicherweise nicht von Dauer sind. Sein früheres von der UNESCO ausgezeichnetes Werk, ein Fotozyklus über die letzten noch in Betrieb befindlichen Dampflokomotiven des Landes, verschaffte ihm internationale Anerkennung. Seit über 15 Jahren hält Ma das chinesische Leben fest, vorzugsweise hinter den Kulissen. Seine Arbeiten wurden sowohl in nationalen als auch in internationalen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht.
[Die authentische Seite]
Aufgrund der beruflichen Hintergründe von Huang und Ma kann "Family Stuff" sowohl als journalistisches als auch als künstlerisches Projekt betrachtet werden, wobei das formale Konzept beide Perspektiven erfolgreich miteinander verbindet. Während sich der 1971 geborene Künstler Huang vor allem für den sozialen Wandel interessiert, der im täglichen Leben sichtbar wird, geht es dem 1963 geborenen Fotojournalisten Ma darum, China von seiner authentischen Seite zu zeigen, die Realität der ländlichen Mehrheit des Landes anstelle der städtischen Fassaden, die üblicherweise von den Medien dargestellt werden. Vor allem aber wollen beide Künstler den tiefgreifenden Wandel dokumentieren, den China durchläuft. Nirgendwo sonst lässt sich dies deutlicher beobachten als im Alltag normaler Familien. Die Familie ist die zentrale Institution in der konfuzianischen Tradition, das Elternhaus steht für Identität und nicht für Stil. Es ist diese ländliche Lebensweise, in der das Haus ein Mittel zur Existenz und zum Lebensunterhalt ist, die Huang und Ma zu dokumentieren versuchten, und die in den Städten bereits von einem westlicheren, materialistischen Verständnis verdrängt wurde. Die Zeiten ändern sich...
[Der heimliche Protagonist]
Die Zeit ist in der Tat der heimliche Protagonist dieser Fotografien. Jedes Bild zeigt ihre Auswirkungen und Relativität: Sie nagt an alten Häusern, die bald durch moderne Baustellen ersetzt werden, die sich bereits im Hintergrund abzeichnen; sie manifestiert sich in Fernsehgeräten und Kühlschränken neben traditionellen Möbeln und Kochutensilien; sie ist sogar direkt in den Uhren eingefangen, die Huang gerne prominent in seinen inszenierten Arrangements platziert. Die Bilder zeigen, dass der Fortschritt genauso viel nimmt wie er gibt. Für Huang sollten die positiven Auswirkungen nicht übersehen werden. Er weist darauf hin, dass das Leben in den letzten 30 Jahren sicherer und einfacher geworden ist. Die Mienen der porträtierten Familien sind in der Tat meist zufrieden, sie sind stolz auf das, was sie erreicht haben, so wenig es aus westlicher Sicht auch erscheinen mag. Aber es ist auch ein besorgtes Lächeln zu sehen, wie in den Gesichtern der Familie im Umsiedlungsprogramm in Peking, die darauf wartet, in ihr neues Haus zu ziehen, damit ihr altes abgerissen werden kann.
[In gewisser Weise nackt]
Huang und Ma arbeiten als unabhängige Partner, Huang für den Norden, Ma für den Süden des Landes. Die Familien davon zu überzeugen, sich in einer solch radikalen Totalität, gewissermaßen nackt, der Kamera auszusetzen, ist die größte Herausforderung, der sich beide auf ihren jeweiligen Expeditionen stellen müssen. Der Aufbau von Vertrauen und die Vorbereitung des Geländes für die Dreharbeiten können Monate dauern, immer wieder müssen Huang und Ma erklären, warum sie wollen, dass die Familien ihre Häuser räumen und die Künstler ihr Hab und Gut draußen dekorativ arrangieren dürfen. Sobald sie eingewilligt haben, sind die meisten Familien bereit, ihre Besitztümer auszustellen, zumal sie eine finanzielle Entschädigung erhalten. In einigen Fällen dürfen nicht alle Besitztümer gezeigt werden, in anderen passen nicht alle Möbel durch die Türöffnungen; aber im Allgemeinen, so bestätigen die Künstler, zeigen ihre Porträts die durchschnittliche chinesische Realität, wie sie heute ist: einfach, unprätentiös und im Vergleich zu vor 20 Jahren auffallend frei von politischem Schnickschnack.
Mit seinem spielerischen Zitat der traditionellen Dokumentarfotografie und des Porträtgenres ist "Family Stuff" ein fesselndes Werk, zweifellos ein großes Geschenk an künftige Generationen - und ebenso faszinierend wie demütigend für jedes westliche Publikum, das an einen Massenmarkt von Produkten "made in China" gewöhnt ist.
von Lisa Contag und Eva Ballestrem
CHINA: INSIDE-OUT NOW
Normality, when inverted, can bear astonishing insights, for example in the work of Huang Quingjun and Ma Hongjie. Since 2005 the two Chinese photographers have been portraying family dwellings turned inside out: Furniture, accessories, animals and all, neatly presented – in the front yard. The series of photographs compellingly documents average Chinese living conditions today; and it captures the fragility of a status quo defined by change.
When Huang Qingjun and Ma Hongjie agreed to collaborate on their project „Family Stuff“ in 2005, they knew it would take a while. Aiming to portray Chinese families from different regions and ethnic backgrounds, they planned this project very much like a long term expedition. So far, a series of 20 images has been compiled that were exhibited at the 798 photo gallery in Beijing in 2007, two pieces were also shown at last year's Paris Photo. In 2011 the project is scheduled to end with a total of 50 pictures and a book.
For Huang, this is not the first project concentrating on aspects of China that may not last. His previous UNESCO-awarded work,a photographic cycle featuring the country's last still operating steam locomotives, gained him international reputation. Ma has been chronicling Chinese life, preferably behind the scenes, for over 15 years. His works have been published in national as well as international newspapers and magazines.
[The authentic side]
Due to the professional backgrounds of Huang and Ma, „Family Stuff“ can be considered both a journalistic and an art project, its formal concept successfully merging both perspectives. While 1971 born artist Huang is particularly interested in the social change that is becoming visible in daily life, 1963 born photo-journalist Ma is concerned with showing China from its authentic side, the reality of the country's rural majority instead of the urban facades usually portrayed by the media. Above all, however, both artists want to document the profound transition China is undergoing. Nowhere else can this be observed more clearly than in the everyday life of normal families. Family is the central institution in the Confucian tradition, the family home represents identity rather than style. It is this rural way of life where home is a means of existence and livelihood that Huang and Ma sought to document and that has already been superseded by a more westernised materialistic understanding in the cities. The times are changing...
[The secret protagonist]
Time is in fact the secret protagonist in these photographs. Every picture shows its effects and relativity: It eats away at aged houses soon to be replaced by modern construction sites already looming in the background; it presents its manifestations in TV-sets and refrigerators alongside traditional furniture and cooking accessories; it is even directly captured in the clocks that Huang likes to place prominently in his staged arrangements. The images demonstrate that progress takes as much as it gives. To Huang, the positive effects should not be overlooked. He points out that life has become safer and easier in the last 30 years. The expressions of the families portrayed are indeed mostly content, they are proud of what they have gained, little as it may seem from a Western point of view. But troubled smiles can be noted too, as in the faces of the family in the resettlement programme in Beijing, waiting to be moved to their new home so their old one can be demolished.
[Naked in a way]
Huang and Ma work as independent partners, Huang covering the North, Ma the South of the country. Convincing families to expose themselves to their cameras in such a radical totality, naked in a way, is the major challenge both face on their respective expeditions. Building trust and preparing the grounds for the shoot can take months, again and again Huang and Ma have to explain why they want the families to empty their houses and let the artists decoratively arrange their belongings outside. Once they have consented to participate, most families are happy to display their possessions, even more so since they receive financial compensation. In some cases, not all belongings are permitted to be shown, in others not all furniture fits through the doorways; but generally, the artists confirm, their portraits depict average Chinese reality as it is today: simple, unpretentious and compared to 20 years ago strikingly void of political paraphernalia.
With its playful quotation of traditional documentary photography and the portrait genre, „Family Stuff“ is a compelling work, undoubtedly a great gift to future generations - and intriguing as humbling for any Western audience accustomed with a mass market of products „made in China“.
by Lisa Contag and Eva Ballestrem
FAMILY STUFF, 2005 - 2008
40 x 50 cm - Edition: 20
80 x 100 cm - Edition: 8
120 x 150 cm - Edition: 6
Hahnemühle Fine art Print.
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